Tod auf der Betriebsstätte

Die 13 – „Sie können der Nächste sein“
Arbeitsunfälle, Wegeunfälle, Berufskrankheiten

3. Tod auf der Betriebsstätte

Begräbnis nach Seemannsart

 

Unfall des Steward auf der Überfahrt von Vlissingen nach Tampa (USA).

Der Steward P. war auf einem 2.64O BRT großen Schiff auf der Überfahrt von Vlissingen nach Tampa (USA). Am Unfalltag befand sich das Schiff im Atlantik an der Grenze eines Sturmgebietes. Es hatte beigedreht, schlingerte und stampfte hart und nahm Wasser über Deck und Luken. Um 3.4O Uhr war P. noch in der Offiziersmesse gesehen worden. Um 5.45 Uhr fand ihn ein Matrose, der ihn um diese Zeit wecken wollte im Nachtzeug auf dem Boden seiner Kammer liegend vor. Mitglieder der Schiffsbesatzung stellten fest, daß P. anscheinend in tiefer Ohnmacht lag, die linke Gesichtshälfte abgeschürft, die Unterlippe blutig aufgeschlagen war und die linke Stirnseite einen blauen Fleck aufwies. Atmung und Puls waren nicht spürbar. Um 6.O5 Uhr erhielt P. eine Coramin-Spritze, um 8.OO Uhr eine zweite. Um 9.OO Uhr wurde sein Tod – Untertemperatur, gebrochene Augen und Totenflecke an den unteren Körperteilen – festgestellt. Zwei Tage später wurde die Leiche nach Seemannsart den Wellen übergeben. Ein Arzt war nicht an Bord. Während die Berufsgenossenschaft und das Sozialgericht den Entschädigungsanspruch der Witwe prompt verneinten, leitete das Berufungsgericht aus der älteren Rechtsprechung eine Rechtsvermutung folgenden Inhalts ab:

„Ein Versicherter gilt als einem Arbeitsunfall erlegen, wenn er auf der Betriebsstätte tot aufgefunden wird und die Todesursache nicht einwandfrei zu ermitteln ist, aber eine Betriebseinrichtung als mitwirkende Todesursache in Betracht kommt.“

Aufgrund dieser in der Vergangenheit üblicherweise herangezogenen Vermutung verurteilte das Landessozialgericht folgerichtig die Berufsgenossenschaft zu Entschädigungsleistungen an die Witwe.

Damit aber ließ es die Berufsgenossenschaft nun nicht sein Bewenden haben.

Die Berufsgenossenschaft legte erfolgreich Revision ein.

Das Bundessozialgericht kassierte das positive Landessozialgerichts-Urteil und behauptete, daß keine Rechtsvermutung wie zitiert bestünde.

Die Sache wurde zurückgewiesen an das Landessozialgericht.

Damit war die alte Entschädigungspraxis zu vergleichbaren Fällen gekippt.

Gleichwohl war der Gesetzeswortlaut seinerzeit derart gefaßt, daß die Vermutung ohne weiteres daraus abzuleiten war.

Ein Unfall war nämlich ein solcher, der „bei der versicherten Tätigkeit“ auftrat.

Der Leser mag sich selbst ein Urteil dazu bilden, wie man selbst den dargelegten Fall entschieden hätte.

Hätte die Verwaltung der Berufsgenossenschaft die Frage dem Vorstand der Berufsgenossenschaft vorgelegt, ob Revision eingelegt werden soll, erscheint es als zweifelhaft, ob der Vorstand dafür plädiert hätte.

Der Vorstand einer Berufsgenossenschaft kommt nämlich aus der Praxis, und zwar handelt es sich um Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter.

Hätte der Vorstand, der für Grundsatzfälle zuständig ist, also auch für die Frage der Revisionseinlegung, sich nicht für eine Revisionseinlegung entschieden, wäre das positive Urteil des Landessozialgerichts rechtskräftig geworden.

Die Witwe hätte also aufgrund des vorausgehenden Landessozialgerichtsurteils Entschädigung zu beanspruchen gehabt.

Nur ist es so, daß grundsätzlich die Verwaltung einer Berufsgenossenschaft selbst im grundsätzlichsten Fall nicht den Vorstand mit der Frage befaßt im Unterliegensfall der Berufsgenossenschaft, ob nun tatsächlich Revision eingelegt werden soll.

Von der Tatsache, daß es solche Fälle bei der Berufsgenossenschaft gibt, erfahren die Vorstandsmitglieder normalerweise allenfalls aus der Tagespresse.

Die vornehmsten Aufgaben der Berufsgenossenschaft, ob im Grundsatzfall Entschädigung geleistet werden soll oder nicht, ob bei Arbeitsunfall oder Berufskrankheit, gehen an den jeweiligen Vorständen der Berufsgenossenschaften ganz offenbar vorbei.

Im Asbestkrebsfall der Hausfrau, die ihres Ehemannes Arbeitskleidung vom Asbeststaub säuberte, siehe Fall
12, wäre das positive Landessozialgerichtsurteil nach Auffassung des Verfassers rechtskräftig geworden, wenn man zuständigerweise den Vorstand der Berufsgenossenschaft befragt hätte, ob Revision gegen das auf Versicherungsschutz der Hausfrau erkennende Urteil eingelegt werden sollte.

Der Vorstand hätte naheliegenderweise sich wohl nicht darauf eingelassen in diesem Beispielfall, wie ein späterer Fall eines anderen geschädigten Familienangehörigen zu belegen scheint, vergleiche Fall Nummer 13.

Aber zurück zu der nunmehr gekippten „Rechtsvermutung“, die früher für den Fall des Todes auf der Betriebsstätte gegolten hat.

Wie würde nun heute wohl der Fall entschieden, in welchem ohne Beisein von Zeugen ein Versicherter, etwa ein Stahlkocher, in den Schmelztiegel mit flüssigem Eisen fällt, und von dem man später nur noch die Zivilkleidung im Arbeitsspind findet?

Wie sieht es für die Witwe und Waisen aus, wenn der Ehemann und Bauarbeiter abseits von seinem Arbeitsplatz auf dem Rohbau seine Notdurft verrichtet und dabei vom zehnten Stock abstürzt?

Klar ist in allen Fällen, daß der Tod nicht eingetreten wäre, wenn der Versicherte sich nicht zur Arbeit begeben hätte.

Die Arbeit war also die conditio sine qua non (Bedingung ohne die nicht) für den weiteren fatalen Verlauf.

Die Wesentlichkeit der beruflichen Bedingung läßt sich nach der praktischen Lebenserfahrung unschwer feststellen.

Nur hat in der jüngeren Vergangenheit die Rechtsprechung die Anforderungen an den Beweis strikt angezogen.

So muß die Witwe im Ernstfall mit so wörtlich die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts einem Beweisgrad der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit respektive der Sicherheit dieser Wahrscheinlichkeit beweisen, daß ein Unfall stattgefunden hat und daß Schadenfolgen vorliegen.

Die unzweifelhaft einschlägige freie Beweiswürdigung gemäß § 287 ZPO analog, § 2O2 SGG findet in diesen Fällen also nicht mehr statt in dem Sinne, daß bereits Wahrscheinlichkeit genügt.

Vielmehr befinden wir uns auch hier unversehens gewissermaßen im Strafprozeß, wo solche strengen Beweismaßstäbe tatsächlich am Platz sind, bevor man jemanden verurteilt und einsperrt.

Im berufsgenossenschaftlichen Handbuch von Podzun Der Unfallsachbearbeiter wurde früher der Sachbearbeiter der Berufsgenossenschaft vor einer Überspannung der Beweisanforderungen gewarnt, weil oft kein Zeuge beim Unfall zugegen ist, letzterer aber plausibel ist.

Dieser Hinweis wurde in neueren Auflagen offenbar gestrichen.

Der Leser kann getrost davon ausgehen, daß gegenwärtig allenthalben in den schlimmen Fällen der Unfallversicherung die Beweisanforderungen überspannt werden, und zwar gestützt auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, das nur Beweiserleichterungen für die Zusammenhangsfrage weiter gelten läßt, nicht aber für die Eckpunkte, ob ein Unfall vorliegt und ein Schaden.

Vielleicht ist ja der in den Schmelztiegel gefallene Versicherte in Wahrheit nach Südamerika ausgewandert, ohne seiner Familie etwas davon zu sagen.

Dieses ist das Restrisiko einer jeden Beweiswürdigung, weil es sich dabei um Menschenwerk handelt.

Um zu dokumentieren, daß es sich nicht um die bloße Privatmeinung des Verfassers handelt, sei an dieser Stelle der unzweifelhaft analog anwendbare § 287 ZPO wörtlich wiedergegeben:

„Ist unter den Parteien streitig, ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe, so entscheidet hier über das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung.“ (Wortlaut des § 287 Absatz 1, Satz 1 Zivilprozeßordnung, analog anwendbar über § 2O2 Sozialgerichtsgesetz)

Von einer derartigen freien Beweiswürdigung kann der Versicherte im heutigen Sozialgerichtsprozeß nur träumen.

Im Berufskrebsprozeß zur Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis im Einzelfall werden die Beweisanforderungen derart überspannt, daß man den Betroffenen einen Nachweis im Sinne der „Verordungsreife dieses Krankheitsbildes für den Gesetzgeber“ fordert, also die Witwe nachweisen muß, daß der Verordnungs geber die Berufskrankheitenliste um dieses Krankheitsbild erweitern kann.

Eine höhere Beweishürde kann es kaum geben (siehe zu den Beweisanforderungen in den Berufskrankheitsfällen insbesondere Fall Nummer 11).

Rechtsweghinweis:
Im schlimmen Fall sollte auf jeden Fall der Rechtsweg eingeschlagen werden und auf jeden Fall zuvor auf einen rechtsbehelfsfähigen Bescheid gedrungen werden.Das Sozialgerichtsverfahren ist wie das Berufsgenossenschaftsverfahren grundsätzlich kostenfrei.

 

Bild von Ed Judkins auf Pixabay